Der parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion Stephan Thomae schrieb für den „Tagesspiegel“ (Freitagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Bruch mit dem Völkerrecht, wie ihn die Welt in dieser Brutalität seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hat, und wie er deutlicher in keinem Lehrbuch zum Völkerstrafrecht stehen könnte. Dennoch kann der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Handlanger für das völkerrechtliche Verbrechen des Angriffskrieges derzeit nicht belangen.
Das verhindern Hürden, die im Gründungsvertrag des Gerichtshofs, dem Römischen Statut, festgelegt sind. Es braucht daher eine Reform.
Seit 2018 kann der Internationale Strafgerichtshof nicht nur Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Völkermord verfolgen, sondern auch das Verbrechen der Aggression, also das Führen eines Angriffskrieges. Der russische Angriffskrieg ist ein klarer Verstoß gegen das Gewaltverbot, einer der wichtigsten völkerrechtlichen Grundsätze der Vereinten Nationen.
Aber ausgerechnet dieses offensichtliche Völkerrechtsverbrechen, das Putin begangen hat, kann vom Tribunal in Den Haag derzeit nicht verfolgt werden, da Russland nicht Unterzeichnerstaat des Römischen Statuts ist. Notwendig wäre daher eine Resolution im UN-Sicherheitsrat, in der dem IStGH der Auftrag zur Aufnahme von Ermittlungen erteilt wird. Dazu wird es aber niemals kommen, da Russland im Sicherheitsrat ein Veto-Recht besitzt.
Das ist ein klarer Handlungsauftrag an die internationale Gemeinschaft. Wir dürfen nicht tolerieren, dass ein Staatsoberhaupt wie Wladimir Putin einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg startet. Dass er ein Land in Schutt und Asche legt, unschuldige Zivilisten ermorden lässt und sich der internationalen Gerichtsbarkeit einfach dadurch entziehen kann, dass sein Land dem Römischen Statut nicht beitritt oder als UN-Vetomacht im Sicherheitsrat einen Auftrag zur Aufnahme von Ermittlungen gegen sich selbst blockieren kann. Angesichts des unsäglichen Leids, das Putin über die Ukraine gebracht hat, ist ein solcher Freifahrtschein absolut inakzeptabel.
Wir müssen den IStGH in die Lage versetzen, zum Verbrechen der Aggression auch dann zu ermitteln, wenn der betreffende Staat nicht Unterzeichnerstaat des IStGH-Statuts ist. Dazu muss das Römische Statut geändert werden, das am 1. Juli vor 20 Jahren in Kraft getreten ist.
Keine Frage: Das wäre ein Kraftakt der internationalen Gemeinschaft, der einen langen Atem erfordert. Gleichzeitig wäre es aber auch ein Meilenstein in der Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts. Der seit mehr als vier Monaten tobende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigt, dass eine solche Initiative geboten ist.
Diese hätte weltweit Signalwirkung, auch über den russischen Angriffskrieg hinaus. Als internationale Gemeinschaft würden wir deutlich machen, dass sich die Verantwortlichen einer Aggression nicht einfach vor dem IStGH schützen können, indem sie das Römische Statut nicht unterzeichnen und von einer UN-Vetomacht geschützt werden.
Denn anders als etwa bei Kriegsverbrechen richtet sich die Verfolgung des Verbrechens der Aggression nicht gegen die Soldaten im Kriegsgebiet, sondern gegen diejenigen Personen, die das politische oder militärische Handeln eines Staates kontrollieren und lenken, also die Führungselite eines Staates. Im Fall des russischen Angriffskrieges also direkt gegen Wladimir Putin und jedes Mitglied seiner politischen Führung.
Deutschland kommt seit jeher eine besondere Rolle beim Völkerstrafrecht zu. Bereits bei der Errichtung des IStGH im Jahr 2002 hat unser Land eine entscheidende Rolle gespielt und setzt sich seitdem für einen starken, funktionsfähigen und unabhängigen IStGH ein.
Bei der ersten Überprüfungskonferenz zum Römischen Statut in Kampala im Juni 2010 hat sich die Bundesrepublik maßgeblich dafür eingesetzt, dass es überhaupt zu einer Einigung bei der Definition des Verbrechens der Aggression gekommen ist.
Zudem ist Deutschland einer der größten Beitragszahler für den IStGH. Der Ukraine-Krieg zeigt auf dramatische Art und Weise, dass eine Weiterentwicklung des IStGH und des Völkerstrafrechts notwendig ist. Deutschland sollte sich hierfür stark machen und erneut als Vorreiter vorangehen.
Dabei ist klar, dass eine derartige Reform des Völkerstrafrechts eine langwierige Angelegenheit ist und viel Vorbereitung, diplomatisches Geschick und Geduld erfordert. Insgesamt müssten mindestens 30 Vertragsstaaten die Änderungen annehmen und ratifizieren. Im Falle von Wladimir Putin und Mitgliedern der russischen Staatsführung könnten diese Änderung zu spät kommen.
Als eine Art Zwischenlösung könnte für den russischen Angriff auf die Ukraine ein Sondertribunal in Erwägung gezogen werden. Dies sollte und darf aber kein Ersatz dafür sein, langfristig eine Reform des IStGH-Statuts anzustreben. Denn in einer Welt, in der Frieden leider keine Selbstverständlichkeit ist, ist es wichtig, für künftige Fälle gewappnet zu sein. Den Jahrestag des Römischen Statuts sollten wir daher zum Anlass nehmen, unsere Vorreiterrolle im Völkerstrafrecht zu erneuern und notwendige Reformen anzustoßen.