Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Alexander Graf Lambsdorff schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Montagsausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
„Amerika ist zurück“ – Die klare Ansage des neuen amerikanischen Präsidenten Biden müsste Balsam für die Seele jedes Demokraten sein. Vier Jahre Donald Trump haben Blessuren im euro-atlantischen Verhältnis hinterlassen. Bidens Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und zur Nato haben in Europa deshalb viele Entscheider gerne gehört. Der Grund liegt auf der Hand: Tragfähige, verlässliche Antworten auf globale Herausforderungen sind ohne die Vereinigten Staaten nicht zu finden. Es kommt jetzt darauf an, dass Deutschland und die europäischen Partner aus der Rückkehr der Vereinigten Staaten auf die Weltbühne strategisch die richtigen Lehren ziehen. Die ersten Äußerungen aus dem Berliner Regierungsviertel wecken Zweifel daran, dass die deutsche Politik das schon verstanden hat.
Erstens: Europa darf nicht wieder in einen außen- und sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf fallen. Es wäre ein Trugschluss zu glauben, Amerika werde es schon allein wieder richten. Für dieses Ungleichgewicht der Verantwortung schwindet in der US-amerikanischen Gesellschaft der Rückhalt, auch bei den Europa zugeneigten Demokraten. Genau deshalb ist die Diskussion um das 2-Prozent-Ziel der Nato keine „völlig absurde Debatte“, wie die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock jüngst verkündete. Es ist eine Frage der fairen Lastenteilung, denn die Vereinigten Staaten erwarten zu Recht, dass Deutschland und die europäischen Nato-Partner ihren Beitrag zur Sicherung von Frieden und Stabilität leisten. Es ist deshalb richtig, wenn die EU-Kommissionspräsidentin den Anspruch formuliert, Europa müsse die Sprache der Macht lernen und in der Sicherheitspolitik eigene „Muskeln“ aufbauen. Der Weg dahin ist allerdings noch weit. Josep Borrells desaströse Pressekonferenz an der Seite des russischen Außenministers Lawrow, die unverändert verfahrene Lage auf dem Westbalkan oder das Stückwerk europäischer Bemühungen um die Stabilisierung der Sahel-Region machen das schmerzhaft deutlich. Dennoch ist das Ziel richtig. Wir brauchen eine stärkere, weltpolitikfähige Europäische Union.
Zweitens: Wir brauchen mehr „Westen.“ Ein Europa, das sich in einer unruhigen Welt selbst behaupten kann, darf kein Europa sein, das für sich allein steht. Doch der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich befürwortete kurz nach der US-Wahl die Abkoppelung Europas von den Vereinigten Staaten. Was das für unsere Sicherheitspolitik, unsere Militärdoktrin und unseren Verteidigungshaushalt bedeuten würde, hat er wohlweislich verschwiegen. Im Falle einer Abkoppelung von den Vereinigten Staaten müssten wir nämlich die Entscheidung treffen, ob wir nuklear erpressbar werden oder wieder Verteidigungsausgaben wie zu Bonner Zeiten haben wollen, als die Bundesrepublik drei oder vier Prozent der Wirtschaftsleistung für ihre Verteidigung ausgab. Solcherlei offenkundig nicht zu Ende gedachte Gedankenspiele führen nicht nur in die Irre, sie verursachen jenseits des Atlantiks gerade bei unseren Freunden tiefe Sorgenfalten. Viele amerikanische Freunde Deutschlands sind nach dem entscheidend von der Bundeskanzlerin vorangetriebenen Abschluss des EU-Investitionsabkommens mit China ohnehin irritiert. In Washington wird offen die Frage diskutiert, wie Deutschland sich wohl orientieren wird. Sieht sich die Berliner Republik noch als integraler Teil des demokratischen Westens oder primär als Handelsmacht, die ihr Glück in einer Schaukelpolitik zwischen Washington und Peking sucht? Die Bundesregierung sollte schleunigst alle Fragezeichen ausräumen.
Denn drittens: Wir leben in einer Zeitenwende. Die uns vertraute Weltordnung, die es uns erlaubte, mehr als siebzig Jahre in Wohlstand, Frieden, Freiheit und Sicherheit zu leben, wandelt sich, neue Machtverhältnisse entstehen. Der Aufstieg Chinas, eines Landes, in dem der Einzelne nichts zählt und schwerste Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind, stellt die Demokratien in Europa und Asien vor neue Aufgaben. Der Systemwettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und China wird international zur bestimmenden Machtauseinandersetzung. Europa muss in dieser sich verändernden Ordnung seinen neuen Platz finden. Dabei geht es nicht darum, Anhängsel oder gar Spielball irgendeiner Großmacht zu sein, weder von Russland, China noch den Vereinigten Staaten. Es geht um unsere europäische Art zu leben, um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat, den European Way of Life. Unsere freiheitlichen Werte und unsere europäische Lebensart konnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufblühen und sich entwickeln, weil wir im Westen, dem Zusammenschluss der Demokratien, Schutz und Heimat gefunden hatten.
Die Debatte über „strategische Autonomie“ darf deshalb nicht zur Chimäre werden, die das transatlantische Band kappt. Die Allianz Europas mit den Vereinigten Staaten und Kanada ist nicht nur eine außenpolitische Frage der militärischen Absicherung, sie ist nach innen gerichtet geradezu existentiell für unsere politische und gesellschaftliche Freiheit, weil nur dieses Bündnis kraftvoll und freisinnig genug ist, unseren European Way of Life zu achten, zu schützen und uns so den Raum zur freien Entfaltung unserer demokratischen Gesellschaften zu erhalten.